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Der Schatten im Archiv
created Wednesday June 18, 12:20 by ceppler
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Das Archiv roch nach Staub, altem Papier und kaltem Metall. Niemand ging freiwillig dorthin, ausser wenn die Lehrerin der Geschichtsklasse eine Spezialaufgabe vergab. Mara hatte sich gemeldet, aus reiner Neugier. Sie mochte verlassene Orte – das Halbdunkel, das Flüstern der Vergangenheit in vergilbten Akten. Es war Freitagnachmittag, der Flur leer. Der Schlüssel zum Archiv lag an seinem Platz im Sekretariat. Niemand fragte nach, niemand begleitete sie. Die Tür knarrte beim Öffnen, als wolle sie sich weigern, Fremde hineinzulassen. Drinnen war es kühl. Die Regale standen eng, reichten bis zur Decke, und das schwache Licht der Neonröhren liess die Schatten tanzen. Mara zog ihren Pullover enger um sich, blätterte durch alte Schülerakten, Klassenfotos aus den Sechzigern, verstaubte Schulpläne. Vieles war langweilig. Und doch schien etwas seltsam zu sein. In einem abgelegenen Regal entdeckte sie einen Ordner ohne Beschriftung. Das Papier darin war älter als der Rest, die Schrift mit Füller geschrieben. Es ging um einen Schüler, der 1981 plötzlich verschwunden war – mitten im Unterricht. Keine Spur, keine Erklärung, kein Abschlussbericht. Nur eine Notiz am Rand: „Nicht erneut öffnen.“ Etwas an diesem Satz liess sie nicht los. Wer hatte ihn geschrieben? Und warum? Sie legte den Ordner zurück, aber als sie sich umdrehte, war der Gang hinter ihr dunkler geworden. Das Licht flackerte. Schritte hallten durch das Archiv – langsam, gleichmässig. Sie rief nach jemandem, aber niemand antwortete. Sie ging in Richtung Tür. Der Schlüssel steckte noch. Doch als sie ihn drehen wollte, bewegte sich nichts. Verschlossen – von innen oder aussen war unklar. Panik kroch in ihr hoch. Sie atmete flach, wandte sich wieder dem Raum zu. Die Schritte waren verstummt. Doch das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb. Im hintersten Regal war der Ordner verschwunden. Mara suchte hektisch – nichts. Kein Hinweis. Nur ein winziger Zettel, der zwischen den Akten auf dem Boden lag. Darauf stand in derselben Handschrift: „Jetzt bist du Teil der Akte.“ Als sie endlich befreit wurde – drei Stunden später, durch einen zufälligen Hausmeister – wirkte sie ruhig. Zu ruhig. Sie sagte, sie habe nur gelesen, die Zeit vergessen. Niemand bemerkte, dass ihr Schatten beim Hinausgehen eine Sekunde länger an der Wand blieb als sie selbst. Und niemand öffnete das Archiv in diesem Jahr ein zweites Mal.
